Als eine Million Flüchtlinge ins Land strömte, behauptete Kanzlerin Angela Merkel unverdrossen: Grenzen lassen sich nicht schließen. Das war pure Ideologie, und wie alle Ideologien war sie falsch. Grenzen lassen sich durchaus überwachen und notfalls schließen, wie verschärfte Kontrollen in Baden-Württemberg zeigen.
Seit die Bundespolizei an der Grenze zur Schweiz und zum Elsass genauer hinschaut, nehmen die Asylanträge im Regierungspräsidium Freiburg ab. Die Zahl der unerlaubten Einreisen geht zurück. Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl sagte der «FAZ»: «Die Kritik am Binnengrenzschutz ist eindeutig widerlegt.» Während der Fussball-EM kontrollierte die Bundespolizei 68 000 Personen und schickte 1300 in die Schweiz zurück. Andere Grossereignisse mit erhöhter Polizeipräsenz an den Grenzen bestätigen dieses Bild.
Wer weniger Asylmigration will, muss dafür sorgen, dass weniger Asylanträge gestellt werden. So einfach ist das. Ein verschärftes Grenzregime ist deutlich effizienter als die Methode Merkel, erst alle ins Land zu lassen und dann wenige abzuschieben.
Die Bewegungsfreiheit im Schengen-Raum ist ein hohes Gut, aber sie gilt nicht absolut. Die Steuerung der Zuwanderung und die innere Sicherheit müssen dagegen abgewogen werden. Dies ist bei allen anderen politischen Zwecken gängige Praxis. So gilt das Fernmeldegeheimnis nicht schrankenlos; es kann zur Abwehr einer schweren Straftat aufgehoben werden.
Nur der unkontrollierte Grenzübertritt im Schengen-Raum scheint ein Wert an sich zu sein, dessen Einschränkung eine unverzeihliche Sünde wider den Geist der europäischen Einigung ist. Sich hinter solchem Dogmatismus zu verschanzen, ist bequem. Probleme löst man aber nur mit Pragmatismus.
Wenn sich Deutschland dazu aufrafft, seine Grenzen besser zu überwachen, wirkt sich das auch auf die Nachbarländer aus. Solange der grosse Kanton im Norden alle aufnimmt, muss auch die Schweiz nicht so genau hinsehen. Viele der aus Italien und Österreich kommenden Flüchtlinge ziehen ja ohnehin weiter – ins gelobte Land, nach Deutschland.
Das Versprechen von Scholz ist unehrlich
Weil aber die Ampelkoalition ebenfalls lange der Ideologie der offenen Grenzen huldigte, betrachtet sie neuerdings mehr Abschiebungen als Allheilmittel. Seit ein Afghane in Mannheim einen Polizisten ermordet hat, propagiert Olaf Scholz die Ausschaffung «schwerstkrimineller und terroristischer Gefährder» nach Afghanistan und Syrien. In diesen Fällen wiegt das Sicherheitsinteresse Deutschlands schwerer als die Schutzinteressen des Täters», donnerte Scholz im Bundestag.
Das Versprechen des Kanzlers ist nicht nur schwer umsetzbar, sondern obendrein unehrlich.
Es ist wenig praktikabel, weil man bei Abschiebungen auf das Entgegenkommen der Heimatstaaten angewiesen ist. Um dieses zu erreichen, sind meist langwierige Verhandlungen mit einer Mischung aus Druck (Verweigerung von Entwicklungshilfe) und Anreizen (Kontingente für eine reguläre Arbeitsmigration) notwendig. Dazu war man sich aber bisher zu fein. Deutschland will schliesslich besonders moralisch sein
Die Ministerinnen Nancy Faeser und Annalena Baerbock verzögerten solche Verhandlungen, weshalb Deutschland weniger Rückführungsabkommen hat als etwa die Schweiz. Und selbst da, wo man solch ein Abkommen besitzt wie mit Indien, bleibt es weitgehend wirkungslos. Zudem scheinen der grünen Kamarilla im Auswärtigen Amt die Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik ziemlich gleichgültig zu sein. Anders lassen sich die jüngsten Ungereimtheiten um die Visa-Vergabe an Afghanen nicht erklären.
Die Europäische Menschenrechtskonvention legt ausserdem fest, dass niemand «der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden» darf. Genau das droht Abgeschobenen in Afghanistan und Syrien.
Die Regierung ist am Ende ihres Lateins
Deutsche Richter werten daher das Schutzbedürfnis von Ausländern höher als die Sicherheitsinteressen Deutschlands. Zwar hat das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen kürzlich verneint, dass in Syrien generell Lebensgefahr herrscht. Die meisten Gerichte sehen das jedoch anders.
Abschiebungen in Länder, in denen Bürgerkrieg herrscht oder ein Unrechtsregime wie die Taliban, werden voraussichtlich die Ausnahme bleiben. Alles andere ist Aktionismus einer Regierung am Ende ihres Lateins.
Das Kanzler-Versprechen ist zudem unehrlich. In seiner Amtszeit fanden so wenig Abschiebungen statt wie noch nie in den letzten Jahren, sieht man vom Corona-Jahr 2020 ab. Zwar sind die Bundesländer für den Vollzug zuständig, aber zugleich unternahm die Ampelkoalition nichts, um einen härteren Kurs durchzusetzen.
Im Gegenteil, so migrationsfreundlich wie die jetzige Bundesregierung waren wenige ihrer Vorgängerinnen: Verkürzung der Fristen für die Einbürgerung. Ausbau der Bleiberechte für abgelehnte und ausreisepflichtige Asylbewerber. Erhöhung des Bürgergelds, von dem zur Hälfte Ausländer profitieren. Hier sind Überzeugungstäter am Werk.
Grüne und AfD agieren ideologisch
Man muss dazu nur die Wahlprogramme der Parteien zur Bundestagswahl 2021 lesen. Zwei Parteien beschäftigen sich geradezu obsessiv mit der Migration. Die AfD will sie um jeden Preis erschweren. Die Grünen möchten sie um jeden Preis erleichtern. Beiden Parteien ist ihre Ideologie wichtiger als die Realität mit ihren Grauzonen.
Bei ihrem Lieblingsthema haben die Grünen die anderen Ampelparteien im Schlepptau, und die Innenministerin oder linke Sozialdemokraten lassen sich gerne ziehen. Für Faeser waren Abschiebungen bisher kein Thema, permanente Grenzkontrollen auch nicht.
Scholz steuert rhetorisch um. Neuerdings plädiert er sogar für mehr Grenzkontrollen, was früher als europafeindlicher AfD-Sprech galt. Dass sich der Kanzler gegen die Überzeugungstäter durchsetzen kann, ist allerdings unwahrscheinlich. Wer zu Beginn seiner Regierungszeit angetreten ist, die Schleusen möglichst weit aufzumachen, wird diese zum Ende hin nicht schliessen.
Ohnehin dürfte die «Ampel» ihre Arbeit nach den Landtagswahlen in drei ostdeutschen Ländern einstellen. Die zu erwartenden herben Niederlagen werden die Koalition in den Krisenmodus versetzen. Rette sich, wer kann, lautet dann die Devise. Schon jetzt distanziert sich Baerbock von den Äusserungen des Kanzlers.
Eine unideologische Migrationspolitik beschränkt sich nicht auf Phrasen («mehr abschieben»), sondern probiert alle Instrumente aus. Dazu gehören auch Asylverfahren in Drittstaaten, selbst wenn das als inhumaner «Rwanda-Plan» diffamiert wird. Manches funktioniert, anderes nicht. Alles zusammen reduziert die Attraktivität Europas.
Falsche staatliche Großzügigkeit
Mindestens so wichtig wie extrem politisierte Einzelmassnahmen sind die vielen kleinen Stellschrauben, die jeder bedienen kann, dem Ergebnisse wichtiger sind als weltanschauliche Rechthabereien: niederschwellige Kontrollen, konstanter Druck. Man muss es nur wollen und darf die Ausdauer nicht verlieren.
Wenn im Ruhrgebiet Polizei und Sozialämter ganze Strassenzüge durchkämmen, gehen ihnen regelmässig ausländische Sozialleistungsbetrüger ins Netz. Bürgergeld, Kindergeld – im gelobten Land kommt man relativ einfach an Staatsknete.
Das heizt nicht nur die Migration an, sondern fördert auch die organisierte Kriminalität arabisch-türkischer Clans. Diese haben aus der staatlichen Grosszügigkeit längst ein Geschäftsmodell gemacht. Wenn man konsequent kontrollieren würde, wäre vieles gewonnen. In Nordrhein-Westfalen reagieren aber die Grünen mit der CDU. Daher bewegt sich jeder Polizeipräsident auf dünnem Eis, der den Druck hoch hält. Polizisten warnen davor, dass Afghanen, Syrer oder Nordafrikaner ohne reguläre Jobs ein ideales Reservoir für die organisierte Kriminalität sind. So sind marokkanisch dominierte Gangs in den Cannabis-Handel eingestiegen und liefern ihrer Konkurrenz in Nordrhein-Westfalen einen brutalen Bandenkrieg.
Die Polizisten reden darüber nur hinter vorgehaltener Hand, weil sie fürchten, sonst als fremdenfeindlich abgestempelt zu werden. Migration besteht nicht nur aus gelungener Integration, sie hat auch Schattenseiten. Eine unverkrampfte Diskussion darüber ist die Voraussetzung für alles andere. Diese aber scheint in Deutschland unmöglich zu sein. Lieber echauffiert man sich über die Frage, wie rechtsradikal das Wort «Remigration» ist. Als wären die von Scholz propagierten Abschiebungen nicht auch eine Form von Remigration. Der Kanzler – ein Nazi? Manchmal ist Politik ein absurdes Spektakel.
NZZ, 09.08.2024